Wenden wir uns heute der am weitesten verbreiteten Perspektive neuerer Literatur zu: dem personalen Erzähler in der dritten Person. Dritte Person heißt in der Regel „er“ oder „sie“, wobei inzwischen auch nicht-binäre Pronomen wie „xier“ oder „dey“ langsam Einzug in die Literatur halten (vor allem im Bereich des Selfpublishing).
Ratten können nicht schwitzen. Hitze geben sie vor allem an Schwanz und Ohren ab, wo sie nur spärlich behaart sind.
Der Erzähler als Krähe
Falls Sie die vorigen Teile dieser Reihe nicht gelesen haben, hier noch einmal zum Verständnis:
Stellen Sie sich den Erzähler als eine Krähe vor, die dem Leser die Geschichte übermittelt. Diese Krähe sitzt entweder ganz nah bei Ihren Protagonisten oder schwebt weit über der Szene und hat alles im Blick. Je nachdem, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen und hören kann, fällt die Geschichte aus, die sie uns erzählt. Es handelt sich hier allerdings um eine ganz besondere Krähe, denn je nach Perspektive bekommt sie nicht nur mit, was die Personen in unserer Story tun, sondern auch was sie denken und fühlen. Und manchmal kann sie sogar in die Zukunft schauen. Eine Zauberkrähe, sozusagen.
Die personale Krähe
Nun kommen wir den Personen in unserer Geschichte deutlich näher. Bei der personalen Erzählperspektive in der dritten Person hat sich die Krähe auf der Schulter eines Protagonisten niedergelassen und es sich dort gemütlich gemacht. Sie verfolgt das Geschehen hautnah. Sie erlebt brandaktuell mit, was der Protagonist tut, sieht, denkt und fühlt – und das gibt sie an uns weiter.
Allerdings hat die Krähe nun einen Teil ihrer Weitsicht eingebüßt. Da sie auf der Schulter von Person A sitzt, kann sie nur deren Gedanken und Gefühle erspüren. Was Person B denkt, weiß sie nicht. Wie Person A selbst, kann sie höchstens am Gesichtsausdruck, an der Körpersprache und an dem, was Person B sagt, erkennen, was in ihr vorgeht.
Das hat einen großen Vorteil: Da wir selbst im Allgemeinen nur unsere eigenen Gedanken kennen, können wir uns mit dem Protagonisten nun viel leichter identifizieren, und das sogar, wenn er uns eigentlich gar nicht so wirklich ähnlich ist. Ein paar Zweifel, die uns bekannt vorkommen, eine unangenehme Situation, in der wir uns wiederkennen, und schon beginnen wir, uns in die Protagonistin hineinzuversetzen. Wir lachen und weinen mit ihr, haben Angst, wenn sie sich in einer gefährlichen Situation wiederfindet, und freuen uns, wenn ihr Widersacher eins auf den Deckel bekommt.
Gleich und doch verschieden
Was für mich zu Anfang schwer zu verstehen war: Auch wenn die Krähe nach wie vor in Form von „er“ oder „sie“ erzählt, den Protagonisten also von außen betrachtet, so berichtet sie das Geschehen trotzdem aus dessen Perspektive. Denn nur die kann sie von ihrem Platz auf der Schulter erkennen. Der Protagonist ist nicht mit der Krähe (also dem Erzähler) identisch, und doch sagen wir, dass die Geschichte aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird. Denn anders als der auktoriale Erzähler bleibt die personale Krähe so gut wie immer unsichtbar. Als Leser ignorieren wir einfach ihre Existenz – wir tun so, als ob sie nicht da wäre. Das ist der stillschweigende „Vertrag“, den der Autor mit dem Leser abgeschlossen hat.
Die personale Multiperspektive
Wenn wir die personale Perspektive in der dritten Person verwenden, sind wir nicht zwingend über das gesamte Buch auf die Sichtweise einer einzigen Person beschränkt. Die Krähe kann durchaus einmal zu jemand anderem fliegen und aus dessen Sicht berichten. Das nennt man Multiperspektive.
Allerdings ist es in den allermeisten Fällen gut, wenn sie das nicht zu oft tut, sonst lenkt das viele Hin- und Hergeflattere doch zu sehr von der eigentlichen Geschichte ab. Jeder Perspektivwechsel sollte ein eigenes Kapitel bekommen (oder doch wenigstens einen eigenen Abschnitt, der mindestens durch eine Leerzeile gekennzeichnet ist).
Nicht so einfach, wie man denkt!
Die personale Perspektive ist in der neueren Literatur mit Abstand die verbreitetste. Das liegt vermutlich unter anderem daran, dass sie deutlich mehr Nähe schafft als die neutrale und die auktoriale Perspektive, und damit auch mehr Spannung. Und vielleicht ist sie auch deshalb so beliebt, weil Autoren sie für die einfachste Perspektive halten. Aber tatsächlich ist sie für unerfahrene Autoren häufig etwas kniffelig. Die größte Gefahr bei der personalen Perspektive ist, dass wir den Kopf unseres Protagonisten aus Versehen verlassen und so genanntes „head hopping“ (Kopf-Hüpfen) betreiben.
Ein Beispiel:
„Tommy machte sich Sorgen. Wie sollten sie Pipi nur jemals wiederfinden? Auch Annika war verzweifelt.“
Das geht mit dem personalen Erzähler nicht. Denn wenn wir aus Tommys Perspektive erzählen, dann wissen wir nicht, wie sich Annika fühlt.
„Auch Annika sah verzweifelt aus.“
Ja, das ist schon deutlich besser. Denn Tommy kann nicht in Annikas Kopf hineinsehen, wohl aber von außen erahnen, wie sie sich fühlt.
Dennoch ist auch der zweite Satz, wenn man es sehr genau nimmt, nicht korrekt. Der Stein des Anstoßes ist hier das Wort „auch“. Wenn Annika auch verzweifelt aussieht, dann macht das zwei verzweifelt aussehende Menschen. Tommy hat aber in der obigen Passage nicht in den Spiegel geschaut und weiß daher gar nicht, wie er aussieht.
Sie sehen: Die vermeintlich einfache personale Perspektive hat durchaus ihre Tücken.
Vor- und Nachteile der drittpersonalen Perspektive
Der wohl größte Pluspunkt der personalen gegenüber der auktorialen Perspektive ist die größere Nähe, die durch sie entsteht. Und mit dieser Nähe wird uns die Identifikation mit dem Protagonisten erleichtert. Dadurch, dass wir seine Gedanken und Gefühle aus nächster Nähe geschildert bekommen, quasi mit der Krähe auf seiner Schulter sitzen, erleben wir die Geschichte, als wären wir selbst dabei. Trotz des „er“ oder des „sie“ lesen wir, als wären wir die Person, aus deren Perspektive erzählt wird. Und wir fühlen mit ihr.
Wenn ihr der Traummann seine Liebe gesteht, lächeln wir. Wenn Werwölfe hinter dem nächsten Gebüsch auf ihn lauern, halten wir die Luft an. Wenn sie kurz vor dem Absturz die Nase des Flugzeugs wieder hochzieht, atmen wir erleichtert auf. Wenn er sich blamiert, werden wir rot.
Diese Identifikation mit dem Protagonisten erzeugt Spannung. Da muss dann im Außen noch nicht einmal viel passieren. Solange die Gedanken- und Gefühlswelt genügend Konflikte bereithält, bleibt es spannend für uns.
In der Popularität der drittpersonalen Perspektive liegt ein weiterer Vorteil: Dadurch, dass sich ein Großteil der Bücher heute dieser Erzählweise bedient, sind die Leser bereits daran gewöhnt und müssen sich nicht auf etwas Neues einstellen. Ich lese zum Beispiel überwiegend Bücher mit einem personalen Erzähler in der dritten Person, und diese sind meist im Präteritum geschrieben. Bei Büchern mit einem Ich-Erzähler in der Gegenwart, wie man sie häufig in Jugendbüchern findet, brauche ich jedes Mal, wenn ich das Buch in die Hand nehme, mehrere Minuten, um mich wieder einzugewöhnen.
Die Nachteile dieser Perspektive halten sich in Grenzen. Wie ich oben bereits erwähnt habe, besteht die Gefahr von Perspektivfehlern (zu denen ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben werde). Für manche Geschichten kann außerdem die eingeschränkte Sicht nachteilig sein. In diesen Fällen ist zu überlegen, ob man nicht lieber auktorial schreibt, die meiste Zeit aber recht nah bei einem oder zwei Protagonisten bleibt.
Wofür eignet sich diese Perspektive?
Nicht zuletzt deshalb, weil wir so sehr an sie gewöhnt sind, ist die drittpersonale Erzählweise für die meisten Autoren sicher am leichtesten zu meistern. Daher bietet sie sich für Schreibanfänger besonders an, aber natürlich dürfen Sie auch als versierte Autorin gerne darauf zurückgreifen. Stephan Waldscheidt geht in seinem Buch „Erzählperspektiven: Auktorial, personal, multiperspektivisch“ sogar so weit, zu fordern, dass Sie gute Gründe dafür haben sollten, wenn Sie diese Perspektive nicht verwenden.
Da wir uns beim Verwenden dieser Perspektive sehr nah an unseren Protagonisten befinden, bietet sie sich vor allem dann an, wenn die Gefühle und das Erleben der Charaktere für die Geschichte wichtig sind, wenn also Nähe entstehen soll. Im Gegensatz zur auktorialen Perspektive, stehen hier die Personen deutlich mehr im Vordergrund als die Handlung.
In der personalen Perspektive werden die Leser in der Regel das gleiche empfinden wie die Charaktere, auf deren Schultern sie sitzen. Man erfährt auf diese Weise deutlich mehr über das Innenleben der Protagonisten, als wenn die Krähe über der Szene schwebt.
Und aufgrund der einfacheren Identifikation eignet sich die personale Perspektive außerdem sehr gut, um Spannung zu erzeugen.
Ein Auto fuhr vorbei und Maritas Blick blieb am Strahl seiner Scheinwerfer hängen, der sich über die Seitenwand der Kirche bewegte und kurz darauf wieder verschwand.
Dann richtete sie die Augen nach vorne auf das dunkle Etwas am Boden, von dem Ben ihr gesagt hatte, dass sie es hier finden würde. Vorsichtig ging sie darauf zu.
Ein Geräusch ließ sie aufschrecken. Sie spähte angestrengt in die Dunkelheit, aber es war nichts zu sehen. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken herab. Marita hätte sich nicht gewundert, wenn gleich ein Vampir auf sie zugesprungen wäre.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und ging langsam weiter.
Je näher Marita kam, desto klarer wurde das Bild, das sie vor sich sah. Dort, in der Mitte der Vierung, lag ein Mensch, und um seinen Kopf herum hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet, die im Licht der Kerzen schwach glänzte.
Am liebsten wäre Marita davongerannt. Aber sie musste es wissen. Vorsichtig näherte sie sich dem leblos daliegenden Körper und ging neben ihm in die Hocke. Sie sah auf das Blut und nahm allen Mut zusammen, den sie noch aufbringen konnte.
Sie streckte die Hand nach der Person aus, aber die Angst ließ sie wieder zurückzucken.
„Du kannst das, Marita!“, dachte sie.
Sie versuchte es noch einmal.
„Nein“, dachte sie. „Ich schaffe das nicht … ich … doch. Ich muss es wissen.“
Sie berührte den Arm der Person und spürte sofort, dass er kalt war. Schnell zog sie ihre Hand zurück.
„Der Mann ist tot!“, dachte sie. „Tot! Ich muss hier weg!“
Ein Schluchzer entfuhr ihr, als sie aufsprang und sich in Richtung der Tür drehte, bereit, so schnell sie konnte hinaus ins Freie zu laufen.
Doch als sie sich umgedreht hatte, blitzte etwas Helles auf. Marita war geblendet. Ein zweites Mal blitzte es und sie hielt sich die Hand vor die Augen.
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sehen konnte und einen Mann erkannte, der mit einer großen Kamera in der Hand vor ihr stand und sie selbstzufrieden angrinste. Marita erstarrte.
„Warum grinst der so?“, fragte sie sich. „Der denkt doch nicht etwa, dass ich …“
Ihr Magen zog sich zusammen. Hatte Ben sie etwa deshalb hierhergeschickt? War das alles eine Falle für sie gewesen? Sie musste diesem Mann klarmachen, dass sie unschuldig war.
Sie öffnete den Mund, aber statt der Worte, die sie hatte sagen wollen, brachte sie nur ein Krächzen hervor. Sie versuchte es noch einmal, aber ihre Stimme hatte definitiv den Geist aufgegeben.
„Verdammt!“, dachte sie. „Was soll ich denn jetzt machen?“
Ben! Dieser miese … Marita spürte, wie sich eine erste Träne der Verzweiflung den Weg von ihrem Auge bis zum Kinn bahnte und wusste, dass es gleich noch viele weitere geben würde.
Wie Sie sehen, sind wir hier viel näher an dem, was Marita erlebt. Wir fühlen mit ihr, fürchten mit ihr.* Genauso gut hätten wir die Szene aber auch aus der Perspektive des Fotografen schreiben können. Das Resultat wäre selbstverständlich eine völlig andere Geschichte gewesen. Diese und noch eine weitere möchte ich Ihnen beim nächsten Mal vorstellen.
*Auch in der auktorialen Perspektive wäre ein solches Maß an Nähe durch ein Heranzoomen möglich. Und das macht es immer wieder schwer, die auktoriale von der drittpersonalen Perspektive zu unterscheiden.
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