Wie ist das eigentlich, wenn man zweisprachig aufwächst? In welcher Sprache denkt man eigentlich? Hat das auch Nachteile? Ich kann nur berichten, wie es bei mir war.

„Du kannst doch Englisch. Sag mal was!“ Das war er: der Horror meiner Kindheit. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Sätze auf dem Pausenhof gehört habe, aber meine Reaktion war immer die gleiche:

Schweißausbrüche und gähnende Leere im Kopf. Wann immer mich als Kind jemand aufgefordert hat Englisch zu sprechen oder etwas zu übersetzen, war es, als ob jedes einzelne englische Wort innerhalb einer Zehntelsekunde aus meinem Kopf hinausgedrängt worden wäre.

Was soll ich bloß sagen? Was nur? Es gibt so viel!

Und dann fiel mir zum Glück irgendwann ein, dass ich den schwarzen Peter auch einfach weiterschieben könnte, und ich fragte:

„Was soll ich denn sagen?“
„Hallo. Ich heiße Anya.“
Puh. Okay, das kann ich. Das ist einfach.
„Hello. My name is Anya.”

Und damit gaben sie sich dann meist auch schon zufrieden. Sie grinsten einmal und dann war das Thema vergessen und ich konnte wieder aufatmen.

Es ist nicht so, dass es mir schwergefallen wäre, Englisch zu sprechen. Ich bin in den USA geboren und Englisch war schließlich die erste Sprache, die ich gelernt habe. Aber ich hatte im Kindergarten schon gelernt, dass man in Deutschland eben Deutsch spricht, und das habe ich dann auch konsequent gemacht – so konsequent, dass meine Eltern, die immer nur Englisch miteinander sprachen, mich auf Englisch etwas gefragt haben und ich dann grundsätzlich auf Deutsch geantwortet habe (und genauso haben es dann auch meine Kinder jahrelang gemacht).

Illustration einer Ratte von hinten

Ich konnte Englisch. Ich bekam Bücher auf Englisch vorgelesen und habe englische Kassetten mit Geschichten gehabt. Meine Eltern sprachen meist Englisch mit mir. Die Worte waren da. Aber es war irgendwie unglaublich schwer, sie auszusprechen, ohne mich dabei falsch zu fühlen.

Geändert hat sich das erst, als ich als Teenager mit meiner Familie wieder nach Amerika umgezogen bin. Und das nicht einmal sofort. Vom ersten Tag an konnte ich mit meiner Umgebung ganz normal auf Englisch kommunizieren. Vermutlich hatte ich in den ersten Wochen einen leichten deutschen Akzent, aber die Worte waren alle da und die Grammatik war korrekt. Aber zu Hause haben wir weiterhin das alte Englisch-Deutsch-Spiel gespielt: Die Erwachsenen haben Englisch gesprochen und die Kinder Deutsch. Bis meine Mutter (die einzig komplett Deutsche in der Familie) einmal für 2 Wochen weg war. Irgendwie war es dann doch seltsam, dass zwei halbamerikanische Kinder mit ihrem amerikanischen Vater in Amerika Deutsch sprechen (zumal das Deutsch meines Vaters ziemlich miserabel war). Und so haben wir innerhalb dieser zwei Wochen irgendwie den Switch vollzogen. Von dem Zeitpunkt an war Englisch die Familiensprache. Obwohl wir seit vielen Jahren wieder in Deutschland sind und beide in Deutschland studiert haben, sprechen mein Bruder und ich auch heute noch meist Englisch miteinander.

Dieses unangenehme Gefühl, wenn ich etwas übersetzen sollte, hatte ich aber weiterhin. Für mich gab es immer zwei Welten: Englisch und Deutsch. Und zwischen diesen beiden Sprachwelten gab es irgendwie keine Verbindung. Ich konnte auf Englisch denken oder auf Deutsch, aber sobald ich etwas übersetzen sollte, stand ich meist da und fing an zu stammeln. Sogar ins Französische zu übersetzen fiel mir leichter als in meine Muttersprache. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich erst mit Ende 40 Übersetzerin geworden bin. Ich kann gar nicht sagen, wie es passiert ist, aber irgendwann hat es dann doch „Klick“ gemacht und die Verbindung war da.

Englisch war nicht gerade mein Lieblingsfach in der Schule. Am Anfang, als es nur um Wortschatz und Grammatik ging, war es zu einfach und daher langweilig. Und später war es einfach nur frustrierend. Denn als wir uns in der Oberstufe mit Literatur befasst haben, war der Englischunterricht für mich genau wie das Fach Deutsch: Ich sollte in meiner Muttersprache möglichst viele geistreiche Dinge von mir geben – für introvertierte Menschen ein Graus. So gab es dann Schülerinnen wie Sandra, die einfach unglaublich gut im „Labern“ war und auf Englisch gefühlt stundenlange Monologe halten konnte (mit einigermaßen korrekter Grammatik, aber furchtbarer Aussprache, die vom Lehrer grundsätzlich nicht korrigiert wurde) und dann bessere Noten bekam als ich.

Überhaupt, die Aussprache. Ich erinnere mich an einen Disput mit meinem Englischlehrer, der felsenfest behauptete, dass der Name Sean „Ssien“ ausgesprochen wird. Mein Argument, dass Sean Connery doch auch nicht „Shawn“ geschrieben wird, tat er mit den Worten ab: „Nein, der heißt ja auch ‚Ssien‘ Connery“. Da half nur Kopfschütteln und Wundern.

Das Sprachlabor mit seinen Hörübungen war ähnlich schlimm. Denn ich bin ein visueller Lerntyp und habe Schwierigkeiten, mir Gehörtes zu merken. Wir bekamen damals die Aufgaben zu dem gehörten Text erst nach dem Anhören ausgehändigt und durften dabei auch keine Notizen machen. Das Aufgabenblatt bestand dann grundsätzlich aus Fragen wie: „How high is the percentage of people who (…)” und ich saß jedes Mal verzweifelt da und dachte: „Das weiß ich doch jetzt nicht mehr!“ Ich hatte jedes einzelne Wort verstanden (klar, es war ja meine Muttersprache), aber trotzdem konnte ich nur die Hälfte der Fragen beantworten. Sandra hat natürlich jedes Mal eine Eins bekommen.

In den USA gab es andere Probleme. Dort wollte ich nämlich irgendwann nicht mehr Deutsch sprechen. Ich hatte als Teenager eine Freundin aus Deutschland und mir war es unendlich peinlich, wenn sie mich in der Schule auf Deutsch ansprach. Es fühlte sich so unnatürlich und rau an. Vermutlich war ich aber auch einfach faul geworden. Tatsache ist, dass Deutsch viel anstrengender zu sprechen ist als Englisch. Man muss den Mund viel mehr bewegen und beansprucht ganz andere Muskeln. Das merkt man erst, wenn man es mal eine Zeitlang nicht getan hat. Inzwischen stelle ich schon nach 4 Wochen Urlaub in den USA fest, dass mein Mund träge wird, wenn ich kein Deutsch spreche. Es kostet wirklich Überwindung, wieder zurückzuwechseln.

Heißt das alles, dass ich es bereue, zweisprachig aufgewachsen zu sein? Nie und nimmer! Englisch ist ein Teil von mir. Ich denke mal auf Deutsch, mal auf Englisch. Und oft merke ich gar nicht, welche Sprache ich gerade spreche oder höre. Einmal habe ich erst nach der Hälfte eines Hörbuches gemerkt, dass es auf Deutsch war, obwohl ich eigentlich Englisch hatte hören wollen. (Im Gegensatz dazu kann ich mir deutsch synchronisierte Filme wirklich gar nicht anschauen – das wirkt alles so unnatürlich).

Es ist großartig, zwei Sprachen zur Verfügung zu haben. Englisch ist in einigen Bereichen viel exakter als Deutsch. Über Gefühle lässt sich zum Beispiel auf Englisch viel leichter und effektiver sprechen. Und andere Themen fallen mir auf Deutsch leichter. Und wenn mir im Gespräch mit meinen Kindern einmal ein Wort fehlt, sage ich es einfach in der anderen Sprache.

Außerdem hat mir das zweisprachige Aufwachsen auch ein viel tieferes Verständnis für Sprachen gegeben, als ich es sonst gehabt hätte. Neben Deutsch und Englisch spreche ich einigermaßen fließend Französisch und Kiswahili und kann mich auf Japanisch, Spanisch und Italienisch verständigen. Ich bin mir recht sicher, dass ein großer Teil meines Talents für Sprachen darauf zurückzuführen ist, dass ich von Anfang an zwei Referenzsprachen hatte, mit denen ich neu Gelerntes vergleichen konnte. So war ich nicht so sehr in z. B. deutschen Mustern gefangen und konnte Abweichungen von mir Bekanntem leichter akzeptieren und verarbeiten.

Nicht zuletzt hat es mir ermöglicht, etwas zu tun, was ich liebe, nämlich Bücher von meiner Muttersprache in meine andere Muttersprache zu übersetzen. Und dafür bin ich unendlich dankbar.

 

 

Kategorien: Persönliches

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